Künstler im Zimmer
Wie aus einer fernen Welt hörte er das Bitten vor seiner
Tür. Es klopfte noch einmal. Dann kam nichts mehr. Janosch war gegangen. Er war
ganz sicherlich gegangen. Hatte er ihn verscheuchen wollen? Nun hatte er ihn
verscheucht. Vielleicht. Beherrscht atmend lehnte er mit dem Rücken an der Tür,
die Handflächen tastend auf dem kühlen Holz. Kein Laut.
Janosch schob
etwas unter der Tür durch. Einen Brief. Wie früher, dachte Ludwig, wie früher.
Da hatten sie auch nicht gesprochen, sondern einander Briefe zugeschoben. Was
hielt ihn davon ab, dem alten Freund die Tür zu öffnen? Viel. Nun hob er
bedacht vorsichtig das Kuvert auf, drückte es an sich. Einen Moment sann er den
alten Zeiten nach, mit geschlossenen Augen. Im dusteren Vorraum seiner Wohnung.
Janosch unterbrach sein Sinnen nicht, mit keinem Wort. Er stand noch vor der
Tür. Minuten vergingen, ehe er ungeduldig wurde.
„Liest du ihn
wenigstens?“, fragte er Ludwig, der den Brief nach wie vor von außen besah. „Du
musst mir nicht aufmachen, ist schon in Ordnung. Aber sagen könntest du etwas.
Ich sehe dich übrigens durch den Türspion lugen.“
Erschrocken trat
Ludwig einen Schritt zurück. Er hatte ihn doch nur sprechen sehen wollen, um
sich zu vergewissern. Aber es war Janosch, und daran bestand eigentlich seit
Beginn dieser absurden Szene kein Zweifel. Wenn er nun aber öffnete kam
vielleicht mehr herein, als der alte Freund. Womöglich konnte er die Tür nie
wieder schließen, weil der Schwall von draußen die beiden Flügel bis zum
Anschlag aufriss und ihn an die Wand am Ende des Vorraums heftete. Die Wucht
der Dinge, die hereinströmen mochten, wenn er nun aufsperrte, war nicht
abzuschätzen. Ein Blick auf die Uhr. Es war Nachmittag, und somit draußen mit
Sicherheit heller, als hier in der Wohnung. Beinah bat er Janosch, er möge
nachts wiederkommen. Aber er tat es nicht. Er wollte nicht verrückt klingen,
auch wenn er wusste, er war es.
Janosch wusste es
auch. Er kannte ihn lange genug, um das zu wissen, aber weil er ein kluger Mann
war, hatte er ein anderes, treffenderes Wort gesucht, den Freund zu
beschreiben. Verrückt waren viele - verrückt zu sein, war trivial, und trivial
war Ludwig nie gewesen. Verrückt zu sein war konformistisch. Ein jeder
schnappte über angesichts der heutigen Zeit. Ludwig war nie konform gegangen,
mit nichts. Am Ende war die Suche nach einer anderen Bezeichnung doch nur ein
Versuch, den Ernst des Zustands herunterzuspielen - denn was war er am Ende
anders, als all die andern.
Noch hatte Janosch
die Hoffnung, er habe es mit einer kindlichen Natur zutun. Er musste nur lange
genug warten, dann öffnete ihm der Freund gewiss. Mit Sicherheit konnte er
nicht sagen, ob er überhaupt lange genug hier draußen stehen konnte. Genauso
gut mochte sich diese Tür erst am St. Nimmerleinstag auftun. Ein gewisses
Risiko blieb. Aber er vertraute auf seine Intuition.
Einstweilen hatte
Ludwig die paar Zeilen gelesen. Es war wirklich nett von Janosch, ihm zu
versichern, er käme in guter Absicht. Nur half ihm das nicht weiter, denn er
wusste um die Absichten des Freundes. Sie waren immer gut und wohlwollend. Und
an ihm lag es auch gar nicht. Es lag an den Gespenstern, die Ludwig immerzu
sah. Es lag an seinen Spinnereien. Ja, es waren Spinnereien, sagte er sich
entschlossen, und sperrte auf, ehe er es sich anders überlegen konnte.
„Hallo.“ Janosch
lächelte, mit sich und dem Ausgang der Szene zufrieden. Er kannte Ludwig ja
doch.
„Komm herein, steh
hier nicht rum.“, murmelte jener, zog den Mann rasch in die Wohnung herein, um
die Tür möglichst schnell wieder hinter ihm schließen zu können. Nun standen
sie einander gegenüber, in diesem schummrigen Halbdunkel. Ein wenig unsicher,
was nun zu tun war, suchte Janosch nach dem Lichtschalter. Vielleicht klärte
sich die Situation, wenn er den Freund besser sah.
„Bloß nicht!“,
fuhr Ludwig allerdings dazwischen. Seine Augen funkelten drohend. Im Gesicht
des andern sah er seine eigene Lächerlichkeit wie in einem Spiegel. Von sich
erschrocken drehte er sich um und ging erhabenen Hauptes dem Freund voran ins
Wohnzimmer, legte den Brief nebenbei auf die Kommode.
Janosch folgte ihm
kommentarlos. Sein Blick blieb immer wieder an einzelnen Gegenständen hängen,
die er schemenhaft ausmachen konnte. Ludwig war kein schöner Anblick. Er ging
zwar souverän wie eh und je, mit dieser gewissen aufreizenden Unnahbarkeit, sie
war am Ende jedoch nur mitleiderregend. Janosch setzte sich auf das Sofa, sah
auf zu Ludwig, der an einem Ende des niedrigen Tischchens Platz nahm und sich
quer über ihn hinstreckte. Wie aufgebahrt lag er vor dem Freund, sah jenen aus
schwarz umrahmten Augen an, fühlte die kalte Tischplatte im Rücken und vor
allem am Hinterkopf. Er lag denkbar unbequem, doch niemand hinterfragte den
Moment. Anders konnte er nicht geschehen.
„Wie war es in
Paris?“, fragte Ludwig.
„Paris? Ach, Paris
war schön.“, antwortete Janosch. „Aber was weiß ich eigentlich von Paris, nach
diesem Monat. Ich kann dir von der Haute Couture erzählen, von mageren Gestalten in sündteuren, untragbaren
Fetzen, von personifizierter Arroganz, die mich drei Stunden warten ließ, und
zu der ich dann dennoch freundlich sein musste, weil mich ein falsches Wort
meinen Beruf kosten könnte. Ich kann dir von viel Schein erzählen, und von
wenig Sein. Von falschen Heiligenscheinen über hohlen Köpfen. Von dem Glück,
gut bezahlter Fotograf zu sein. Von dem Drama, nicht auf Bild bannen zu können,
was Wirklichkeit ist, um die Welt aus ihrem selbstgewählten geistigen Schlummer
zu rütteln. Aber von Paris - nein, von Paris weiß ich im eigentlichen nichts.“
Mit einem feinen
Lächeln in den Zügen zündete Ludwig eine Zigarette an, die er dann, auf dem
Couchtisch liegend, zu rauchen begann. „Der alte Philosoph...“, flüsterte er,
blickte schwärmerisch an die Decke. „Das hat mir gefehlt.“
„Mir auch.“,
nickte Janosch. „Es hat zwar etwas durchaus Belustigendes, inmitten dieses
Theaterstücks zu stehen, und als einziger das Drehbuch zu kennen, aber man
neigt dazu, an dem Wissen zu zerbrechen. Vor allem, wenn man die Handlung nicht
verraten darf, weil dann das Publikum entsetzt zur Tür hinausstürmen würde.“ Er
seufzte, sagte dann, nicht ohne Stolz: „Meine Wenigkeit macht sich leicht
Feinde.“
„In deiner Welt.“,
antwortete Ludwig, streckte die Hand aus nach einem Aschenbecher, den er
geschickt zu sich holte. „In meiner Welt wärst du ein Genie. Ich weiß noch
immer nicht, weshalb du Fotograf geworden bist. Oder viel mehr - ich weiß es,
und habe es nie verstanden.“
„Du bist der
Künstler, Lou. Das war immer so, das musste immer so bleiben.“ Stille kehrte
ein. Janosch beschloss, das Thema zu wechseln. „Wie geht es deinem Bruder?“
Doch es kam keine
Antwort. Ludwig rauchte unberührt weiter, mit Blick zur Zimmerdecke, als habe
er den Freund gar nicht gehört.
„Ist es nicht
besser geworden?“, fragte er sacht und leise nach. Abermals sprach der Freund
nicht, sondern sah plötzlich lächelnd zu ihm herüber.
„Ich habe gestern
einen Artikel über mich gelesen. Rate, in welcher Zeitung. Ein langer Artikel,
sage ich dir. Über meine Ausstellung. Oder viel mehr - über mich. Unterm Strich
kam bei der hochpsychologischen Analyse meines Künstlergeists, wie man so schön
titelte, heraus: arrogantes Arschloch.“ Ludwig atmete tief. „Ich bin kein
arrogantes Arschloch.“, sagte er dann beherrscht, sah Janosch fest in die
Augen. „Nicht?“
„Nein.“,
bestätigte ihm der Freund. „Nein, ganz sicherlich nicht. Nimm dir diese Dinge
nicht so sehr zu Herzen.“
„Weil ich nicht
zur Vernissage gekommen bin!“, lachte Ludwig verstört. „Weil - weil ich nicht
da war, all die widerwärtigen Hände zu schütteln, die grässlichen Fratzen zu küssen.
Weil ich einfach nicht da war, sondern in meiner ganzen Arroganz zu Hause
geblieben bin. Arroganz! Ist es nicht direkt komisch?“ Er lachte. In einer
verzweifelten Art jedoch, die Janosch das Herz brach. Jener hatte den Artikel
am Vortag selbst gelesen. Er wusste um Ludwigs Gründe.
„Sie müssen doch
irgendetwas schreiben.“, beschwichtigte er ihn.
„Doch nicht die!“,
sagte Ludwig, fasste sich mit einer Hand an die Stirn, hielt in der andern
geziert seine Zigarette, lag da, theatralisch hingestreckt, wie eine sterbende
Operndiva. „Bislang schrieben die nur ernstzunehmende Kritiken, die meine Kunst
betrafen.“
„Der Abbau des
Niveaus macht eben auch vor derlei Zeitungen nicht halt. Jetzt stürzen sie sich
auch schon in windige Klatschblattgeschichten.“
„Meinst du?“,
fragte er kindlich hoffend.
Janosch nickte.
„Ja. Die kennen dich doch nicht.“
„Aber vielleicht
wirke ich so arrogant?“
Darauf bekam er
keine Antwort.
„Ich werde ewig
missverstanden.“, seufzte Ludwig, nahm einen letzten Zug, ehe er den Zigarettenstummel
ausdämpfte. „Meine Art - das ist doch keine Arroganz, das ist... Ich weiß
nicht. Niemand macht sich die Mühe, über die Gründe meines Fernbleibens
nachzudenken, niemand macht sich die Mühe, mich auch nur zu fragen. Zu finden
wäre ich sicherlich gewesen, ich war die ganze Zeit über hier, in dieser
Wohnung, bei modrig riechender Luft. Wie ein Tier, das aus unerklärlichen
Gründen aus dem Winterschlaf erwacht ist, und nicht aus seiner Höhle kann, da
der Schnee den Ausgang verschüttet hat. Jetzt sitzt es fest, das Tier, ohne
Nahrung, ohne Gesellschaft, da alle andern tief schlafen. Und es sieht sie
nicht einmal, so dunkel ist es.“
„Wie lange warst
du nicht mehr draußen?“, fragte Janosch ruhig. Ludwigs Blick war voll
infizierenden Schmerzes.
„Einen Tag, eine
Woche... Ein Monat? Ein Jahr! Ich weiß es nicht. Ich habe die Zeit verloren.
Ich wache nachts auf, und glaube, es sei Nachmittag. Ich gehe zum Türspion,
sehe hinaus. Es ist stockfinster draußen. Die neue Zeitung ist noch nicht da.
Welches Datum haben wir? Ich kann die alte nicht finden, laufe im Kreis.
Schalte das Licht ein. Es blendet. Ich schalte es aus. Wann wird es wieder hell
draußen? Das Licht tut mir in den Augen weh. Aber ich habe Angst, es könne nie
wieder hell werden.“
„Malst du momentan?“,
fragte Janosch, da er das Ende der Sackgasse fürchtete.
„Nein.“ Ludwigs
Ton wurde nüchtern. „Weißt du eigentlich, wie man Bilder malt, Janosch? Weißt
du, wie genau es geschieht?“ Und als er den Kopf schüttelte: „Du hast recht. Du
weißt es nicht. Jeder glaubt, man nimmt Leinwand, Farbe, Pinsel - und fertig.
Aber nein... Man muss erst mit der Muse schlafen.“
„Mit der Muse
schlafen?“, wiederholte Janosch.
„Ja. Ich habe
ohnehin nie verstanden, weshalb die Muse weiblichen Geschlechts ist. Denn
tatsächlich ist sie vollkommen androgyn. Und jedes Bild, jegliche Kunst, die
entsteht, ist letzten Endes nur das Kind des Künstlers mit der Muse.“ Ludwig
sah wieder an die Decke, der Aschenbecher stand auf seiner Brust. „Denn die
Muse hat gewissermaßen die Fähigkeit, den Geist des Künstlers zu befruchten. Es
ist schließlich an ihm, das Produkt ans Tageslicht dieser Welt zu befördern.
Das Malen ist folglich nur der Prozess der Geburt. Und noch kann der Künstler
nicht wissen, wie es aussehen wird, das Werk. Es besteht aus den Genen der
Muse, und aus den seinen. Vielleicht wird es reizend, vielleicht auch
grauenerregend. Aber er muss es lieben, der Künstler muss sein Werk, sein Kind,
bedingungslos lieben.“
Müde wandte Ludwig
seinem Freund das Gesicht zu. Jener versuchte, im Halbdunkel darin zu lesen,
doch er hatte diese Miene noch selten zuvor so ausdruckslos gesehen.
„Und da wären wir
auch schon bei dem Grund meiner künstlerisch unproduktiven Phase.“, erklärte
Ludwig. „Die Muse - sie ist das arroganteste Geschöpf unter dieser Sonne. Und
grenzenlos egoistisch noch dazu. Sie kommt und geht, wann es ihr passt. Und
manchmal setzt sie sich demonstrativ vor einen hin, sieht einen an, mit
unschuldigem Lächeln in den Zügen. Sie tut das stundenlang, und du weißt - sie
will dich nicht, heute wird sie sich nicht mit dir vereinigen, sondern dich nur
mit ihrer stillen Präsenz quälen. Zwingen kannst du sie auch nicht. Sie ist
unnahbar.“ Er lächelte. „Momentan sehe ich sie nicht. Ich sehe sie schon eine
ganze Weile nicht mehr. Sie hat mir auch keine Nachricht hinterlassen, kein:
Bin bald zurück, mach dir keine Sorgen. Sie ist einfach verschwunden.“
„Dann liegt also
in keinster Weise in deiner Hand, ob du künstlerisch tätig bist, oder nicht?“,
schlussfolgerte Janosch daraus.
„In gewisser Weise
bin ich doch auch jetzt künstlerisch tätig.“, erklärte ihm Ludwig daraufhin mit
einem gewissen Quantum Ironie. „Sich nicht zu erschießen, wenn die Muse fort
ist - das ist eine Kunst.“
„Du solltest nicht
allein leben.“, hielt Janosch ihm entgegen, da er über Ludwigs eigenen Humor
heute nicht einmal lächeln wollte. „Wieso sind wir eigentlich nicht
zusammengezogen? Nach der Schule hätte sich das doch fast ergeben müssen.“
„Manuela.“, sagte
Ludwig kühl.
„Ach ja.“ Janosch
hatte die Frau vergessen. „Es hat nicht einmal ein Jahr gehalten. Danach hätten
wir doch zusammenziehen können, oder nicht? Aber da hattest du deine erste
Ausstellung, und ich war in Mailand. Seltsam. Es hat sich nie ergeben.“
„Wir haben im
Internat auch keine neue Zimmereinteilung erreicht.“, sagte Ludwig, lächelte in
sich hinein. „Die haben ums Verrecken versucht, uns voneinander fern zu
halten.“
Janosch lachte.
Sie erinnerten sich beide der sogenannten guten, alten Zeiten, über die man
auch erst im Nachhinein lächeln durfte, da sie damals, in ihrer ganzen
Wirklichkeit, beinah unerträglich gewesen waren.
Sie hatten
einander unter merkwürdigen Umständen kennengelernt. Aufgrund der großen
Schülerzahl waren sie einander nämlich zwei Jahre hindurch niemals aufgefallen,
nicht ehe sie einander in der Bibliothek begegneten.
Janosch stand auf
der einen, Ludwig auf der anderen Seite des erschlagend hohen Bücherregals,
beide Jungen waren damals beinah vierzehn Jahre alt. Sie griffen nach dem
selben Buch, versuchten, es herauszuziehen, spürten Widerstand. Janosch ließ
los, Ludwig nahm das Buch, und durch die entstandene Lücke sahen sie das
Gesicht des jeweils anderen. Beide erschraken. Ludwig allerdings lächelte
gleich darauf amüsiert. Kein Wort wurde gesprochen. So kam man fortan jeden Tag
um die selbe Zeit, zu sehen, ob denn der seltsame Fremde auf der anderen Seite
wieder da wäre. Eine Woche verging mit diesem Spielchen, ehe Ludwig einen Brief
zwischen den Büchern hindurch auf die andere Seite schob. Es hätte so einfach
sein können - ein Wort nur hätten sie wechseln müssen, sich einander
vorstellen, hinter diesem Regal hervortreten und einander die Hände schütteln.
Stattdessen begann
jedoch ein reger Briefverkehr. Janosch zeichnete sich aus durch seine wunderbar
saubere Schrift, Ludwig durch sein schwer lesbares Gekrakel und die kunstvollen
Illustrationen. Sie hatten einander gefunden, zwei verwandte Seelen
kommunizierten durch die Trennwand eines Bücherregals hindurch ausschließlich
schriftlich. Erst nach zwei Monaten sprachen sie miteinander, der Reiz des
Ungewöhnlichen war in unstillbare Neugier übergegangen.
„Weißt du noch?“,
fragte Janosch, lachte noch immer. „Die Anzengruber hat uns gesehen, beim
Briefwechsel. Das hat sie natürlich gemeldet, immerhin: keiner wusste, was wir
da trieben, und die Fantasie ging mit ihr durch. Ich kann mich noch an die
Moralpredigt erinnern, mit den abschließenden Worten: Und weh dir, du schreibst
dem Kaltenböck noch einen Brief!“
„Und
du hast es trotzdem getan.“, sagte Ludwig.
„Sicher.“ Er
grinste ihn an. „Mein Gott, und dann erst das Gezeter, als wir angefangen
haben, miteinander zu reden, und uns der Berger verpfiffen hat, weil wir nachts
durchs Fenster eingestiegen sind - das war vielleicht ein Skandal. Was sich die
Leute alles zusammengereimt haben! Dann hat mich die Anzengruber in der
Bibliothek abgefangen, am nächsten Tag, und mich beschworen: Gib’ dich nicht ab
mit dem Kaltenböck. Der ist kein guter Umgang.“
„Das sagt man
heute noch.“, meinte Ludwig darauf mit einem Augenrollen. „Dabei warst du viel
schlimmer als ich. Du warst der größte Antichrist, den dieser Katholikenverein
je gesehen hat. Aber du warst immer schon geschickter als ich. Du warst ein
stiller Rebell. Mir ist meine große Klappe immer im Weg gewesen.“ Er zündete
sich noch eine Zigarette an. „Deshalb hat man zu mir auch nicht gesagt, du
wärst ein schlechter Umgang, sondern: Verdirb’ den Jungen nicht. Die hatten
alle ein und das selbe Bild von dir: du warst ein braver, wohlerzogener Knabe.
Ich war der personifizierte Fehler im System.“
„Dir war das
Schauspielern einfach zu dumm.“, erklärte Janosch. „Deshalb bist du jetzt
Künstler, und ich Fotograf. Ich habe meine Verstellung zum Beruf gemacht, und
du deine Eigenart.“
„Sag’, hast du die
Briefe eigentlich noch?“, wollte Ludwig von ihm wissen. „Ich habe deine alle
aufbehalten.“
„Natürlich hab’
ich die noch. Ich hab’s dir immer gesagt: Wenn du einmal berühmt bist, dann
habe ich deine Briefe, und dann verhökere ich sie und werde reich.“
„Und ich habe
darauf immer gesagt: Du wirst doch selber berühmt und reich. Verlass’ dich
lieber nicht auf mein Gekrakel.“
„Und das ist aus
uns geworden.“, sagte Janosch.
Es wurde still.
Das war aus ihnen
geworden. Ludwig lag auf seinem Couchtisch, den Aschenbecher auf der Brust, und
rauchte im Halbdunkel seiner Wohnung die zweite Zigarette. Janosch jettete von
Mailand über New York nach Paris und saß nun hier, in dieser staubigen, teuren
Wohnung, in ihrem kleinsten Zimmer, in dem sich seit geraumer Zeit das gesamte
Leben seines Freundes abspielte. Beide waren Anfang Dreißig, beide hatten weder
Frau noch Kinder.
„Na, ja, Geld
haben wir beide genug.“, fügte Janosch nach einer Weile rechtfertigend hinzu.
„Aber sicher
doch.“, bestätigte Ludwig. „Ich bin reich. Reich an Blech und Papier. Ein
tolles Leben.“
„Die Menschen in
meinem Leben kommen und gehen, aber du bist mir immer geblieben.“, flüsterte
Janosch, mittlerweile sehr nachdenklich.
„Was soll ich dazu
sagen?“ Ludwig seufzte. „Ich hatte immer nur dich, kommt mir vor. Früher einmal
war ich verzweifelt. Ich verzweifelte darüber, als schlechter Umgang zu gelten,
über den Worten der Lehrer, die den Schülern auftrugen, mich zu meiden. Und
irgendwann habe ich mir dann eingeredet, ich könne stolz drauf sein, auf mich
und meinen Ruf. Diese Einstellung hat sich als sehr einträglich erwiesen - aber
nicht unbedingt als erträglich.“
„Vielleicht
solltest du dich mehr mit Menschen aus Fleisch und Blut abgeben, anstatt mit
deiner Muse zu schlafen?“, fragte Janosch, während sich Ludwig am Couchtisch
aufrichtete und sich ihm gegenüber hinsetzte. Er saß nun unausweichlich vor
ihm, ihre Knie berührten sich, sie hatten den Geruch des andern in der Nase,
die Wärme seines Atems im Gesicht.
„Nein.“, sagte
Ludwig unendlich müde. „Nein, nein.“, wiederholte er, und legte seine Hände auf
die Knie des Freundes, als werde es nun ernst, als wolle er ihm nun eine
Weisheit mitteilen. „Menschen, die im Besitz der Wahrheit sind“, erklärte er,
sah Janosch tief in die Augen, „Menschen, die das Drehbuch kennen - die können
nicht glücklich werden. Auch gute Schauspieler wie du nicht. Sie halten nur
länger durch.“
Schwer
atmend ließ Ludwig seinen Kopf auf die Schulter des tief im Innern berührten
Freundes sinken. Dessen Hände waren gelähmt von der Erkenntnis, sein Verstand
arbeitete mechanisch und in rasender Geschwindigkeit daran, sie auf ihren
Wahrheitsgehalt zu prüfen. Alle Gedanken überschlugen sich in diesem dusteren
Zimmer.
„Kannst du nicht
hier bleiben?“, fragte Ludwig, mit fast kindlicher Verzweiflung in der Stimme,
erkannte die Silhouette des vertrauten Gesichts schemenhaft.
„Nein.“, sagte
Janosch bestimmt, und schüttelte den Kopf. „Nein, Lou. Du musst hinaus.“
Daniela Feichtinger
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